Ein gutes Herz
Ein schlagendes Herz macht keinen guten Menschen aus, Taten machen menschlich.
Special zu »Mittsommerlegende – Mit Zimt und Zauber«
Für ihren ersten Weihnachtsmarktbesuch fuhr Magnus mit Enid nach Lüttpütt. Er parkte auf dem Großraumparkplatz und kontrollierte, ob der Ring, der den Vampir vor dem Tageslicht schützte, sicher auf seinem Finger steckte. Dann stieg er aus, öffnete die hintere Tür des Wagens und fragte: »Was sollst du sagen, wenn jemand wissen will, wer du bist?«
Vor Ungeduld zappelte das blonde Mädchen im Kindersitz. »Ich bin deine Nichte und vier Jahre alt.«
»Und?«
»Kein Wandelwolf, sondern ein Mensch. Deshalb darf ich mich auch nicht in einen Wolf verwandeln. Ich bin doch kein Baby, Onkel Magnus!«
Lächelnd entriegelte er den Gurt und hob das Kind auf den Arm. Mit der freien Hand ergriff er zwei Papiertüten und sah sich suchend um. Hoffentlich fütterte der alte Mann auch heute den dicken roten Kater. Schwer beladen schlenderte Magnus zu den Bänken nahe der Elde.
»Guten Morgen«, sagte er und stellte die Tüten ab.
Ein Kater flitzte fauchend vorbei.
»Entschuldigen Sie, ich glaube, wir haben ihren Freund erschreckt. Wir wünschen Ihnen eine schöne Adventszeit. Hier ist etwas für sie und ihren Vierbeiner, Katzenfutter und Lebensmittel.« Er streckte die Rechte aus. »Lassen Sie es sich schmecken.«
Sichtlich gerührt schüttelte ihm der grauhaarige Mann die Hand. »Warum tun Sie das?«
»Um Ihnen eine Freude zu bereiten. Sie füttern die Katze auch, ohne eine Gegenleistung von ihr zu erwarten. Bis zum nächsten Mal.«
Als sie sich in Richtung Marienkirche wandten, fragte Enid: »Warum hat der Onkel fast geweint? Sollte er sich nicht freuen?«
»Er hat sich gefreut, daher kamen ihm Tränen. Menschen reagieren seltsam.« Nachdem er sie abgesetzt hatte, fügte er hinzu: »Deshalb dürfen sie nicht wissen, wer wir wirklich sind.«
»Das weiß ich doch. Da ist Tante Lissa«, rief sie und zerrte ihn zu der rothaarigen jungen Frau.
Sie hob die Kleine lachend hoch. »Du bist ja schon wieder gewachsen. – Grüß dich Magnus.« Melissa hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Die süße Parfümwolke verbarg ihr wolfswandlertypisches Eau de Nasser Hund halbwegs. »Ich freue mich über deine Einladung.«
»Danke, dass du sie angenommen hast. Du siehst bezaubernd aus.«
»Dann zeig das bitte und schenk uns ein Lächeln. Das wird spaßig.«
Enid zappelte, bis sie abgesetzt wurde, und steuerte auf den Adventsmarkt zu. »Da ist ein Karussell!«
»Langsam, Schätzchen, du reißt uns ja die Arme aus!« Aufmerksam musterte Melissa die Weihnachtsmarktbesucher, blähte die Nasenlöcher auf und witterte. »Willst du ein Pferdchen reiten oder in der Feuerwehr fahren?«
»Lieber auf dem Pferd reiten.«
»Das mochte ich früher auch.«
»Was …?« Die kleine Enid legte den Kopf schief, lauschte und zog wie wild.
»Wohin willst du?«, erkundigte sich Magnus.
»Hör doch!« Das Mädchen schleifte sie zu einer Frau, die einen ungefähr sechsjährigen Knaben tröstete. »Warum weinst du?«
»Wolltest du nicht aufs Karussell?«, versuchte Melissa, ihre Nichte abzulenken. »Entschuldigen Sie die Störung.«
»Mein Hund ist weg«, antwortete der Junge und wischte sich mit einem Fäustling Tränen von den Wangen. »Es gab einen Knall, da hat sich Ajax losgerissen und ist abgehauen.«
»Wir finden ihn«, bot Enid an. »Das können wir doch, oder Tante Lissa?«
Bei dem Angebot zuckte Magnus zusammen. Sie mussten sich unauffällig verhalten. Niemand durfte erfahren, wer sie wirklich waren. Wandelwölfe mitten auf dem Lüttpütter Adventsmarkt, und obendrein ein Vampir!
»Aber ja.« Melissa zwinkerte und atmete geräuschvoll ein, Enid witterte gleichfalls.
Ging es noch auffälliger? Menschen schnüffelten nicht so herum! »Wie sieht Ajax aus?«, erkundigte er sich.
Als ihm die Fremde ein Foto von einem weißen Hündchen zeigte, rollte er heimlich mit den Augen. Ajax klang nach einem Rottweiler oder Schäferhund, nicht nach einer weißen Fußhupe.
Ungeduldig zog Enid ihn in eine Richtung, ihre Tante nickte bestätigend. Dem Vampir blieb nichts übrig, als hinterherzutrotten.
»Da!« Das Mädchen wollte losstürmen, Melissa hielt es jedoch zurück. »Ruhig, du willst den Hund doch nicht erschrecken. Er kann den Wolf in dir riechen.« Mit dem Kopf deutete sie auf die parkenden Autos in der Nebenstraße. »Versuch, ob du ihn anlocken kannst, Magnus, bevor er unter die Räder kommt.«
Selbstverständlich verdonnerte sie den Einzigen dazu, auf allen vieren herumzukriechen, der sich nicht in einen Wolf verwandeln konnte. Pflichtschuldig machte er sich für Melissa zum Deppen, um das Fellknäuel zu retten. Es kauerte unter einem Jeep.
»Ajax, hier!«, befahl er in der Annahme, es würde wie seine Hündin Arie gehorchen.
Das Hündchen winselte herzerweichend.
»Ajax, komm zu mir.« Diesmal sprach er sanft wie zu einem Kleinkind. »Komm schon, mein Süßer.«
Auf dem Bauch krabbelte der Malteser näher und schnüffelte an der ausgestreckten Hand.
»Ich tue dir nichts.« Vorsichtig griff Magnus nach dem Halsband, nahm das zitternde Tierchen auf den Arm und steckte es sich unter die Jacke.
»Hey, gut gemacht«, lobte Melissa lächelnd. »Du bist nicht nur ein Wolfsversteher, sondern auch ein Hundeflüsterer.«
»Darf ich Ajax streicheln?«, fragte Enid.
»Lieber nicht, Hunde fürchten Wölfe.«
»Unsere Hündin Arie hat keine Angst.«
»Die lebt doch mit euch unter einem Dach, das ist etwas anderes. Lass uns das Herrchen suchen.« Winkend rief Melissa: »Hier!«
Als der Junge bei ihnen ankam, reichte ihm Magnus den Hundezwerg.
»Ajax, mein Lieber.« Das Kind drückte seinen Vierbeiner an die Brust. »Vielen Dank«, sagte es mit Tränen in den Augen und schluchzte.
»Nicht weinen«, bat Enid. »Ich dachte, du würdest dich freuen.«
»Das machen Menschen auch, wenn sie glücklich sind«, flüsterte Magnus.
»Menschen sind komisch«, wisperte sie genauso leise. »Wollen wir zusammen Karussell fahren?«
»Das ist eine nette Idee«, versetzte die Mutter des Jungen. »So können wir uns bedanken.« Sie holte Eintrittskarten für die Kinder.
Gleich darauf spornten die beiden einmütig ihre Holzpferde an. Und ehe sich Magnus versah, wurde ihm eine Tasse mit dampfendem Glühwein in die Hand gedrückt.
»Ich weiß nicht, was ich ohne Ihre Hilfe gemacht hätte.«
»Gern geschehen«, antwortete Melissa und nippte an ihrem Heißgetränk.
»Sonst lässt sich Ajax nie von Fremden anfassen. Tiere spüren, wenn jemand ein guter Mensch ist.«
Bei den Worten zuckte er zusammen.
Ein amüsiertes Schnauben erklang. »So was von einem guten Menschen«, versetzte die rothaarige Wandelwölfin.
»Hunde mögen mich«, erwiderte er und tat, als nähme er einen Schluck. »Schön zu sehen, wie viel Spaß die Kinder haben. Enid hat nur wenige Freunde hier.«
»Das lässt sich bestimmt ändern. Ihre Tochter ist ein liebenswertes Mädchen und hat Glück, Eltern wie sie zu haben.«
Melissa hakte sich bei Magnus ein und antwortete grinsend: »Wir sind auch sehr glücklich, nicht wahr, Schatz?«
Dieses Mal verdrehte er offen die Augen, wagte jedoch nicht, den Irrtum richtigzustellen. Schatz?
Als Mutter und Sohn sich verabschiedet hatten, tätschelte Melissa seinen Arm. »Die Frau hat recht, du bist herzensgut, obwohl du kein Mensch bist.«
»Das war nicht mein Verdienst, sondern eurer. Ihr habt Ajax gefunden.«
»Und wenn schon, sei nicht so bescheiden. Enid hat wirklich Glück, dich zum Onkel zu haben.« Lächelnd legte sie eine Hand flach auf seine Brust. »Ich hätte gewettet, da rumpelt ein riesiges Herz.«
»Das hat seine Dienste schon vor Jahrhunderten eingestellt.«
»Darauf kommt es nicht an. – Deine Güte braucht kein schlagendes Herz.«
© 2023 Sabine Reifenstahl
»Ein gutes Herz« ist ein Special zu »Mittsommerlegende: Mit Zimt und Zauber«. Der Besuch auf dem Adventsmarkt wird dort nur erwähnt. Link zur Reihe: https://www.sabinereifenstahl.de/mittsommerlegende-die-reihe