Ostaras Gaben – Harfenklang und Reggae-Gesang
Fortuna betätigt sich oft als Begleiterin mit lausigem Humor. Mir vergällte sie das Lachen. Doch eins nach dem anderen.
Mein Lieblingsspruch lautete: Lieber stehend sterben, als kniend zu leben. Das behauptet sich leicht im jugendlichen Übermut, denn wer denkt da schon an eine zeitnahe Begegnung mit dem sensenschwingenden Freund Hein?
Nicht, dass ich an den alten Schwerenöter wirklich glaubte, ebenso wenig wie an den lieben Gott. Kirchen besuchte ich aus Interesse an der Architektur, nicht zum Beten. Und von einer letzten Ölung war ich so weit entfernt wie vom Mann im Mond.
Ich war jung und wollte mich vergnügen. So fuhr ich am Osterwochenende eine einsame Landstraße entlang, um Gleichgesinnte zu treffen. Mit Fauns melodischem Pagan-Folk stimmte ich mich aufs Fest der Ostara ein. Feuer umtanzen, ein gutes Tröpfchen genießen und unsere Fruchtbarkeit zelebrieren. Einige verlockende Wicca hatten sich angekündigt.
Vorfreude heizte die Regionen abwärts des Gürtels an.
Ein Mann sollte seine Gesellschaft nicht nur einer Dame schenken, wenn er viele glücklich machen kann! Mein Zwinkern ließ Frauenherzen wie Bassboxen hämmern, sie umschwärmten mich auf solchen Festen wie Bienen den Honig.
All das blieben auf ewig unerfüllte Erwartungen. Das vorzeitige Ende überraschte mich in Form eines dämlichen Hasen, der nichts Besseres zu tun hatte, als im Gebüsch auf der Lauer zu liegen, um mir im schlechtmöglichsten Moment vors Auto zu hoppeln. Dem langohrigen Gesandten der Ostara konnte ich schlecht ein Reifenprofil ins Fell prägen.
Ohne nachzudenken, verriss ich das Lenkrad. Mit erschreckender Langsamkeit kam der einzige Baum weit und breit auf mich zu: eine knorrige, weit verzweigte Esche, deren Wurzelwerk zum Teil oberirdisch lag und meine letzten Meter ausgesprochen holprig und qualvoll gestaltete. Mit einem ohrenbetäubenden Knall krachte ich gegen den Stamm. Empfing Yggdrasil selbst mich mit ihrem zornigen Ächzen?
Weit gefehlt. Mein Auto wickelte sich um einen Möchtegern-Weltenbaum und mir begegneten weder der namenlose Adler in der Krone, der in den Wurzeln sein Unwesen treibende Drache Nidhöggr noch das zwischen beiden hin- und hereilenden Eichhörnchen Ratatöskr. Vollkommen unspektakulär endete mein Erdendasein. Kein Rückblick auf die Vergangenheit, noch weniger Aussicht auf eine amüsante Zukunft. Die Götter knipsten einfach mein Licht aus! Es blieb nicht einmal Zeit zur Vorbereitung auf den Weg nach Hel. Ein Nachleben in Walhalla mit ruhmreichen Kämpen, Met und guter Laune wurde mir verwehrt. Mein belangloses Ende rief keine von Odins Walküren auf den Plan. Hoffen konnte ich höchstens auf eine Begegnung mit der hässlichen germanischen Totengöttin.
Danke, ihr Nornen, die ihr meinen Schicksalsfaden zum ungünstigsten Zeitpunkt durchtrenntet!
Harfenklänge drangen an mein Ohr. Überirdische Gesänge weckten Zweifel. Vielleicht hätte ich lieber Ostern statt das Fest der Ostara feiern sollen? Höchstwahrscheinlich befände ich mich jetzt auf dem Weg in die Kirche, statt im Delirium von sphärischen Tönen gequält zu werden.
»Dich hats ja bös erwischt!«, riss eine amüsierte Stimme mich aus den selbstmitleidigen Betrachtungen in die schändliche Wirklichkeit zurück.
Obwohl ich nichts fühlte, fand ich mich ganz schön ramponiert vor. Kurz kam mir die Frage in den Sinn, wie ich mit dem zerschmetterten Bein überhaupt laufen konnte. Der schimmernde Boden zu meinen Füssen lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Brücke, farbenfroh und leuchtend wie ein Regenbogen, der Bifröst.
»Siehst nicht aus, als hättest du die letzte Ölung bekommen, Bursche. Dann mach dich mal auf die Reise in die unteren Etagen gefasst«, sagte der Greis im gepflegten Nachthemd neben mir und kicherte. Fröhlich pfeifend spazierte voraus.
Ihn besuchte der Schnitter wahrscheinlich am Lebensabend gnädig im Bett, während er mich unbarmherzig aus meiner saftstrotzenden Jugend riss.
Die Musik schwoll an, bombastische Orchesterklänge und ein engelsgleicher Chor empfingen uns. Aus dem Nichts tauchte eine Doppelflügeltür auf, riesig, goldbeschlagen, mit wundersamen, ständig wechselnden Schnitzereien.
Das ist wohl die Himmelspforte, dachte ich, und der freundlich lächelnde alte Knacker davor vermutlich Petrus.
Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab, und zum ersten Mal wurde mir angst und bange. Mein Leben lang verleugnete ich Kirche und Gott, blätterte nur aus Neugier in der Bibel. Ausgerechnet vorm himmlischen Gericht zu landen, brachte meine heidnischen Ansichten ins Wanken.
»Na, Hose voll?«, lästerte der Alte, bevor er sich vor dem goldlockigen Herrn im schneeweißen Wallegewand tief verneigte. »Hier bin ich, ein gottesfürchtiger Mann. Ich ging regelmäßig ins Gotteshaus und habe all meine Sünden gebeichtet. Im letzten Jahr durchquerte ich sogar die Heilige Pforte, und der Pfarrer erteilte mir die Sterbesakramente. Ich bin gut auf den Himmel vorbereitet!«
Der blonde Herr trat näher, warf mir einen seltsamen Blick zu, verdrehte die Augen und zuckte die Schultern. Mit ein paar Schritten umrundete er meinen Begleiter. »Martin Alfred Treulos, wahrlich hast du alles getan, um einen Platz im Himmel zu erschleichen! Doch Gott ist nicht bestechlich, weder durch Ablass noch Reliquien!«
Der Angesprochene erbleichte. Obwohl kaum möglich, übertraf seine Totenblässe das helle Linnen des bauschenden Hemdchens. »Ich hab mich immer gottesfürchtig …«
»Das zu beurteilen, überlass mir!«, unterbrach Petrus. »Als Kind hast du Katzen zum Spaß die Schwänze angezündet, später deinen Mitschüler gequält, bis er die Schule verließ. Du hast gehurt, gelogen und deine Frau geschlagen. Investmentbanker landen selten im Himmel, Martin. Am gierigen Gemüt und der schwarzen Seele vermögen weder Beichte noch Spenden etwas zu ändern. Du hast den Ruin unzähliger Menschen in Kauf genommen, um deinen Beutel zu füllen und dich zu bereichern. Denkst du, Gott gefällt das?«
Der Greis schluckte mehrmals und schnappte hilflos nach Luft. »Ich habe gebeichtet! All meine Sünden wurden mir vom Priester vergeben. Der Platz im Himmel ist mir sicher!«
Hinter der Tür grollte es wie bei einem Gewitter.
Petrus nickte, als habe er eine Nachricht erhalten, und zog an einem Klingelseil. »Am Ende zählen deine Taten und wie du gelebt hast! Du müsstest doch am besten wissen, wie wenig man haltlosen Versprechen trauen kann. Statt ehrlich zu bereuen, legtest du nur pflichtschuldig die Beichte ab. Deine Seele ist verdorben und muss geläutert werden!«
Der Boden tat sich unter Martin Alfred Treulos auf, und Sekunden später purzelte er hinab in ein flammendes Inferno.
Ich hörte Rockmusik und wildes Lachen. Erleichtert atmete ich auf. Ganz so schlimm kanns da nicht sein! »Machen wir es kurz, Petrus. Zieh gleich noch mal. Ich bin kein gottesfürchtiger Mensch, sondern ein ungetaufter Heide.«
Der weißgewandete Mann umrundete mich und berührte dabei Arme, Beine, Bauch. Ehe ich mich versah, trug ich statt zerrissener Jeans und blutigem Shirt ein knöchellanges Nachthemd. Ein besserer Begriff fiel mir für das himmlische Wallegewand nicht ein. Trotz der üblen Situation hatte ich Mühe, mich wegen dieses Aufzugs nicht vor Lachen zu krümmen. Ich sah echt bescheuert aus!
»So gefällst du mir schon besser, Christian«, sagte Petrus und musterte mich eingehend. »Du bist also ein schlechter Mensch?«
Das verschlug mir jäh den Humor. Angestrengt überlegte ich und dachte über mein kurzes Leben nach. Ich hatte noch nie Katzen flambiert oder Mitschüler drangsaliert, aber ein Unschuldsengel war ich sicher nicht. Nahm mit, was ich kriegen konnte und genoss die Zeit in vollen Zügen!
»Das können nur andere beurteilen«, wich ich einer direkten Antwort aus. »Aber ich feiere die alten Feste und huldige heidnischen Göttern.«
»Denkst du wirklich, es interessiert Gott, wie du ihn nennst, oder ob du ihn regelmäßig anbetest?«
Was sollte ich darauf sagen? Schweigend musterte ich den Boden und erwartete meinen Abflug in die tieferen Gefilde.
»Du versuchst nicht, dich zu verteidigen?«
»Was könnte ich sagen, das du nicht ohnehin schon weißt?«
Petrus blieb vor mir stehen. »Wohl gesprochen, junger Mann. Wir wissen, was du getan hast. Die Menschen messen wir an ihren Handlungen und ihre Herzen am Gewicht der Gefühle! Und der kleine Ratatöskr hat uns nichts Nennenswertes über dich gezwitschert. Du scheinst ein rechtschaffenes Leben geführt zu haben, bist kein Betrüger und hast niemandem willentlich geschadet oder verletzt. Wen ich sehe, ist jemand, der für seine Freunde da war, wenn sie ihn brauchten. Als Vegetarier setztest du dich fürs Tierwohl ein. Etwas, das bestimmten vierbeinigen Bewohnern hier oben besonders gefällt. Obwohl du selbst arm warst wie eine Kirchenmaus, hast du das Wenige geteilt. – Selbstverständlich war es nicht sonderlich klug, sich über die Himmelsmusik auszulassen. Aber, im Vertrauen gesprochen, niemand kann den ganzen Tag Harfengeklimper ertragen. Das ist nur für den ersten Eindruck. Jimi Hendrix und Steve Lee haben eine Band gegründet. Du wirst auch ein paar andere Leute treffen, die dir bekannt sind, mein lieber Chris. Dir seien deine Verfehlungen vergeben. Tritt ein und bring Spaß herein!«
Bei diesen Worten öffnete sich die Pforte. Wie zur Bestätigung kamen mir ein paar tanzende Jugendliche mit Rastazöpfen und bunten Strickmützen entgegen, Bob Marley sang seinen Song Could you be loved.
Mit rigorosem Knall krachte das Tor zu, und ich saß fest auf Wolke Sieben.
Als Erstes erhielt ich Harfenunterricht, vermutlich als Strafe für meine Lästereien. So durfte ich dann dem himmlischen Empfangsorchester beitreten; war weniger schlimm als befürchtet. Sphärische Klänge erheben die Seele, und später gab es richtige Musik auf die Ohren.
Im Nachhinein betrachtet, fiel mein verfrühter Abgang freundlich aus. Ich bekam sogar eine Beschäftigung, damit mir nicht langweilig wird. Mir wurde die Aufgabe zugedacht, mich um Heiden zu kümmern, die den Umzug in die obere Etage schlechter verkrafteten als ich. An die Tatsache, dass der Himmel existiert, mussten sie sich erst gewöhnen. Hatten sie damit Frieden geschlossen, erzählte ich ihnen die Wahrheit über Ragnarök, das Götterschicksal, und wie das alles ins christliche Weltbild passt.
Wenn die Pflichten erfüllt sind, sitze ich oft mit Baldur beim Schach. Der schöne Gott erzählt von den alten Zeiten unter den Asen, als ein Mistelzweig ihn versehentlich tötete und von seiner Auferstehung …
Doch das ist eine andere Geschichte.
© 2023 Sabine Reifenstahl